42 Kilometer Schlacht und Abenteuer
oder: Warum ein Marathonlauf die Welt verbessern kann
42 Kilometer durch die Strassen von Madrid. Das ist selbst für einen Autofahrer schon eine ordentliche Distanz, auf den eigenen Füssen zurückgelegt aber für den Körper eine echte Herausforderung. Diogenes von der Töss, Philosoph und Langstreckenläufer aus Leidenschaft, hat sich diesem Kampf mit dem eigenen Körper und seinem inneren Schweinehund immer wieder gestellt und kommt mit einigen Erkenntnissen zurück von seinem aktuellen Abenteuer.
Sein Credo: Auspowern bis zur Erschöpfung ist gesund für Leib und Seele. Ausdauersport ist (über)lebenswichtig für die zivilisierten Menschen und hilft durch das komplette „Entladen“ der körpereigenen Energiezellen, den Sportler zu einem ausgeglichenen Menschen zu formen, der aktiv und positiv mit den Erfordernissen des menschlichen Alltags umgeht.
Von Diogenes von der Töss, Lanzarote
Ein Marathonlauf. Das sind ca. 40.000 Schritte und 36.000 Pulsschläge. Es werden rund 15.000 Liter Atemluft benötigt und die Belastung der Füsse im Laufe des Marathons liegt bei dem Gewicht von ca. 8.400 Kleinwagen (ungefähre Werte für einen 70 KG schweren Mann mit einer Laufzeit von 4 Stunden). Was diese grossen Zahlen aber keinesfalls ausdrücken können, sind die Abenteuer, die Körper, Geist und Seele während des Laufes erleben. Und die möglichen Konsequenzen für die charakterliche Entwicklung eines Langstreckenläufers.
Für diesen Marathon habe ich mir das Stadtzentrum von Madrid ausgesucht. Denn in den Grossstädten sind viele Teilnehmer zu erwarten und viele Zuschauer an der Laufstrecke. Ein Gemeinschaftsgefühl, das zusätzliche Kraftreserven freisetzt, die unter Umständen auch bitter nötig sind. Denn der Läufer, der sich dieser Herausforderung nicht gerade als professioneller Leistungssportler stellt, erreicht während des Wettbewerbs meist mehrfach eine persönliche Grenze, einen Punkt, an dem der innere Schweinehund das Aufhören fordert und mit diversen Verlockungen versüsst. Da ist es praktisch, wenn die Meute am Strassenrand dich weiter peitscht und der Schweinehund sich schmollend in sein dunkles Eckchen zurückziehen muss.
40.000 Schritte. Selbst als fast täglich Trainierender, für den das Laufen schon seit einer geraumen Zeit fester Bestandteil des Alltags und fast zur Sucht geworden ist, fragt man sich doch, warum man sich dies überhaupt antut. Dutzende von bunten finisher-T-Shirts und mehr oder weniger hässlichen Medaillen können der Grund wohl nicht sein. Diese Souvenirs machen sich an den Wänden des eigenen Wohnzimmers zwar recht hübsch, aber so wirklich imposant sind die Staubfänger für gelegentliche Gäste dann doch nicht. Zumal die meisten Freunde und Bekannten zwar augenrollend konstatieren „Ein Marathon? Also für mich wäre das nichts“ – aber den wahren Wert dieser Heldentat im Laufe mehrerer Stunden kann wohl doch nur derjenige ermessen, der sich selbst dieser Tortur schon einmal gestellt hatte.
Warum also diese Muskelschmerzen, Schwindelanfälle, Krämpfe, Blasen an den Füssen, wund gescheuerten Körperpartien? Was treibt uns an, 42 Kilometer im mehr oder weniger schnellen Trab zu absolvieren?
Nach dem Zieleinlauf im Parque de Retiro in Madrid und in den darauf folgenden Stunden der Entspannung und Regeneration jedenfalls war mir die Antwort auf diese Frage so klar wie nie zuvor: Der Mensch muss sich auspowern. Muss mit seinen Kräften gelegentlich bis ans Ende und darüber hinaus kommen. Muss kaputt, kaputt, kaputt sein. Der Körper will das so und der Geist wird vielleicht erst wirklich frei, wenn der Mensch aus seinem Körper das Allerletzte herausgeholt hat.
Unsere Zivilisation hat möglich gemacht, dass wir ein mehr oder weniger bequemes Leben führen können: Fahrzeuge befördern uns schnell ans Ziel, Rolltreppen und Fahrstühle trotzen der Erdanziehungskraft besser als unsere Muskeln. Die Pizza wird ins Haus geliefert und das „Jagen und Sammeln“ beschränkt sich auf eine Shopping-Tour im Supermarkt am Samstag. Das ist klasse und wir „zivilisierten“ Menschen ersparen uns damit eine Menge Zeit und Energie. Aber ist unser Körper denn wirklich dafür konstruiert, einen Grossteil seines Lebens auf Bürostühlen, bequemen Sofas, in kuscheligen Betten und Recaro-Sitzen des Autos zu verkümmern? Könnte es nicht sogar sein, dass eine Menge der Aggression, die heute in den Menschen steckt und sich in Streits und Gewalttaten entlädt, eigentlich nur dem normalen Potential an Stärke entspricht, das ein gesunder Körper zur Bewältigung des menschlichen Alltages „früher“ brauchte? Das aber in der modernen Welt, dank der „Errungenschaften der Zivilisation“ also, kaum noch abgerufen werden darf und sich daher häufig andere, fatale Ventile sucht? Vielleicht weiss der Ausdauersportler instinktiv, dass es lebenswichtig ist, dieses Potential von Zeit zu Zeit abzurufen und die Energiezellen des Körpers regelmässig komplett zu entladen. Bei wiederaufladbaren Batterien, so weiss der Experte, dient eine regelmässige vollständige und eben nicht nur teilweise Entladung ebenfalls entscheidend der Lebensdauer der Energiezellen!
Der Mensch muss sich also auspowern. Er bringt seinen Körper an dessen Grenzen und ein Stückchen darüber hinaus. Erweitert seinen Horizont, sein Leistungsspektrum, und auch sein Selbstbewusstsein! Ja, man höre und staune, es gibt dann doch einen Zusammenhang zwischen Leistungsbereitschaft und mentaler Stärke, zwischen Disziplin und Spass am eigenen Dasein! Ich möchte es einmal so formulieren: Wer sich regelmässig bis zur Erschöpfung fordert, der fördert sein Wohlbefinden, seine Lebensfreude, seine innere Ausgeglichenheit. Marathonlaufen als Meditation und als Kraftquelle!
Juan Alcatraz, Psychiater und selbst Marathonläufer, drückt es so aus: “Genauso, wie sich das Leistungsvermögen des auf Ausdauer ausgerichteten Körpers im Laufe der Zeit weiter entwickelt, so bemerken wir auch in der intellektuellen Sphäre signifikante Änderungen. Die Bereitschaft, sich mit den täglichen Problemen in unserem Leben aktiv und positiv zu konfrontieren, verändert sich auf subtile Art und Weise. Die für den Langstreckenläufer so überlebenswichtigen mentalen Funktionen wie Freiwilligkeit, Opferbereitschaft und Durchhaltevermögen beeinflussen den Sportler zunehmend in allen Lebensbereichen!“
Ab einer gewissen Renndauer ist der Läufer immer „am Rande der Niederlage“ und benötigt zusätzliche Willenskraft und eigene Reserven, um nicht in den symbolischen Abgrund zu fallen. Diese Extra-Depots an persönlicher Stärke abzurufen bedeutete früher oft den Unterschied zwischen Leben und Tod. Diese Gratwanderung am Rande des Abgrundes ist heute ein Reiz, der das Abenteuer Marathon ausmacht.
5 Stunden nach erfolgreichem Beenden des Laufes in Madrid, bei unangenehmen 6°C und einem schier endlos langen „Schlussanstieg“ ab Km 34 bis zum Ziel, sitze ich mit der schweren Medaille um den Hals in einer Bar und lasse mir einen kühlen Weisswein schmecken. Am Nebentisch entbrennt ein heftiger Streit eines Ehepaars darüber, wer sich stärker um den gemeinsamen Sohn kümmern soll. In meinem Inneren verbreitet sich ein warmes Lächeln. Denn sicher würden die beiden Eltern, hätten sie denn mal den Marathon auch absolviert, jetzt strahlend und voller Lebensfreude dort sitzen und sich überlegen, welchen Lauf sie gemeinsam mit ihrem filius denn bald mitrennen wollen.
Als die Männer noch vom Jagen und Sammeln, oder von der Verteidigung des Dorfes gegen Eindringlinge heimkamen, ausgepowert, verwundet, geschunden aber nicht geschlagen, da wurden sie von ihren Familien gepflegt und jeder wusste, dass eine ordentliche Regeneration und liebevolle Pflege wichtig war, damit er bald wieder mit ganzer Kraft für die Gemeinschaft da sein konnte.
Wenn heute der arbeitende Mann aus dem Büro nach Hause zurückkehrt, besitzt er bei der Familie selten diesen Stellenwert und wird gerne noch ausgeschimpft, weil der keinen Blumenstrauss mitbringt oder sich nicht auch noch um den Haushalt kümmert. Und ob er selbst nach seinem Schreibtisch-Marathon wirklich ausgeglichen und zufrieden in den Schoss der Familie zurückkehrt, ist auch zu bezweifeln.
Vielleicht verhilft so ein Marathon ja zu einem entspannteren zwischenmenschlichen Miteinander! Indem das Selbstbewusstsein des „Helden“ steigt, die Achtung vor sich selbst und damit auch die Achtung der Nahestehenden vor ihm als Mensch? Vielleicht heilt solch eine Anstrengung ja so manche Zivilistationskrankheit, auch dank der damit verbundenne Umstellungen eigener Lebensgewohnheiten! Und vielleicht sind Marathonläufer nicht irgendwelche seltenen Exoten, die einem Modetrend hinterherrennen, sondern die wahren Wissenden, die die Gesetze und Funktionen ihres eigenen Körpers erkannt haben!
Ich selbst jedenfalls habe mir bei Kilometer 37, von Krämpfen im Unterarm, einer blutigen Blase am Zeh und diversen anderen Wehwehchen geplagt, kurzfristig einreden wollen, dass ich nie wieder einen Marathon laufen werde. Schon beim Frühstück am nächsten Tag jedoch hat es wieder in den Waden gekribbelt! Während der Tour de France 1997 hat der Radprofi Udo Bölts seinem schwächelnden Teamkollegen auf einem steilen Anstieg die lyrische Aufforderung „Quäl´Dich, Du Sau“ zugerufen. In diesem Geiste werde ich, zusammen mit einer immer grösseren Fan-Gemeinde auf der ganzen Welt, auch den nächsten Marathon mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Entsetzen und echter Begeisterung in Angriff nehmen!
Artikel: Diogenes von der Töss
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